Für uns Kinder war der Einzelhandel in den frühen 70er Jahren überschaubar. Kein Mensch fuhr zu Aldi, Lidl oder Netto zum Einkaufen. Zum einen hatten noch nicht viele ein Auto, und zum anderen gab es die Discounter noch gar nicht.

Kaiser’ s Kaffeegeschäft und Gaissmaier waren die ersten Supermärkte in den frühen 70er Jahren

Es gab die ersten Ansätze in diese Richtung, und die hießen in meiner Heimatstadt Singen am Hohentwiel “Kaiser’s Kaffeegeschäft” und “Gaissmaier”. Diese repräsentierten das frühe Entwicklungsstadium der klassischen Supermärkte. Es gab Regale, auf denen eine beschränkte Anzahl von Lebensmitteln schön angerichtet war, Einkaufskörbe und eine Kasse am Eingang. Die Läden waren klein und das Sortiment wie gesagt beschränkt. Bei Kaiser’s gab es auch für jeden Einkauf Rabattmarken, die man in ein Büchlein kleben konnte. Und wenn dieses voll war, gab man es an der Kasse ab und bekam 2 Mark 50. Kundenbindungsprogramme gab es also auch schon in den frühen 70er Jahren. Albrecht (später Aldi) gab es da noch nicht.

Die Supermärkte in den frühen 70er Jahren - Kaiser's Kaffeegeschäft
KI generierte Abbildung einer Kaiser’ s Kaffeegeschäft Filiale in den früheren 70er Jahren, Quelle ChatGPT

Softeis und halbe Hähnchen im Kaufhaus

Ein breiteres Sortiment hatten die 2 Kaufhäuser am Ort, eines hieß ESKA (Erstes Singener Kaufhaus), das andere Bilka (Billig-Kaufhaus). Zusätzlich zu den Lebensmitteln gab es in diesen mehrstöckigen Häusern auch Klamotten, Haushaltswaren, Drogerieartikel, Spielwaren und sogar Fahrräder. Und es gab Rolltreppen, sehr zur Freude der zahlreichen Kinder, die mit oder ohne gekauftes Softeis (hierfür gab es einen betreuten Automaten) rauf und runter fuhren. Und leider oftmals vom Personal weggescheucht wurden. Auch war in jedem der Kaufhäuser eine überschaubare Gastronomie vorhanden für die Stärkung der werten Kundschaft. Legendär waren die Hähnchen-Aktionen im Eska, wobei die halben Gockel gebraten zum Sonderpreis verkauft wurden. Das Bilka lebt heute auf einer Etage noch als Woolworth mit dem typischen Billig-Sortiment weiter, das Eska ist seit den frühen 80er Jahren Geschichte.

Den Aufzug gab’s erst bei Karstadt

In der Mitte der 70er Jahre war es dann endlich so weit: Aufzug zusätzlich zur Rolltreppe, das Warenhaus Karstadt wurde eröffnet. Auf fast 8.000 m2 Verkaufsfläche gab es neben einem großen Restaurant Mode, Schmuck, Elektroartikel, Fotoartikel, Haushaltswaren, Spielzeug, Sportartikel, Drogerieartikel, Fahrräder sowie gehobenere Lebensmittel und eine Menge anderer Sachen, die die beiden kleineren Kaufhäuser nicht im Angebot hatten. Das war mit ein Grund für den Untergang dieser beiden in ihrer ursprünglichen Form in kurzer Zeit. Bei Karstadt konnte man im Parkhaus sein Auto abstellen, mit dem Aufzug in die Verkaufsetagen fahren, fast alles kaufen was man brauchte und auch noch ganz gut essen. Es gab einfach von allem mehr bei vergleichbaren Preisen. Und das Einkaufen war bequemer.

Zurück zu den sehr frühen 70er Jahren. In unmittelbarer Nähe meines Elternhauses gab es zu dieser Zeit noch 3 Bäckereien, 2 Tante-Emma-Läden, eine Drogerie, einen Milchladen, eine Metzgerei, einen Bücherladen, einen Schuhmacher, einen Friseur und einen Eisenwarenladen.

2 Gummischlangen und einen roten Lutscher bitte…

Die Tante-Emma Läden, in denen das sehr überschaubare Lebensmittel-Sortiment von der Inhaberin selbst über die Theke hinweg verkauft wurde, überlebten gerade mal die ganz frühen 70er Jahre, dann war Schluss. Wir Kinder liebten diese Läden, da gab es für ein paar Pfennige die Süßigkeiten unverpackt und einzeln aus großen Gläsern. 2 Gummischlangen und einen roten Lutscher bitte… Allerdings reichte die immer weniger werdende Laufkundschaft aus der Nachbarschaft nicht zum Überleben. Da half auch das hier ebenfalls übliche Kundenbindungsprogramm der Rabattmarken nicht. In den frühen Supermärkten und Kaufhäusern bekam man mehr für weniger Geld.

Wumms aus der Drogerie

Die Drogerie war für uns Kinder immer am Jahresende die Quelle für Knallfrösche und andere Böller. Da man bekannt war, genügte eine schriftliche Vollmacht der Oma (die Eltern wurden lieber nicht gefragt), um den Wumms zu kaufen, der eigentlich für Erwachsene gedacht war. Auch hier wurde die Kundschaft immer weniger, auch hier war Anfang der 70er Schluss.

Milch gab’ s noch in die Flasche

Wer in den sehr frühen 70er Jahren Milch trinken wollte, konnte diese im Milchladen um die Ecke kaufen, frisch abgefüllt vom Milchmann. Der hatte einen gekühlten Milchtank im Keller und einen riesigen Pumpenhebel im Erdgeschoss. Einmal den Hebel nach vorne geschoben, strömte beim Zurückziehen die kalte Milch in die vom Kunden mitgebrachten Flaschen oder Kannen. An einen Zapfhahn für Sahne kann ich mich auch noch erinnern. Die floss in mitgebrachte Gefäße oder in Eis-Waffeltüten, letztere für 10 Pfennig. Doch auch dieser Laden war dem baldigen Untergang geweiht.

5 Mark für die Standardfrisur

Den Standard-Haarschnitt für Kinder gab’s beim Friseur für 5 Mark. Und irgendwie sahen sich alle Kinder in der Nachbarschaft ähnlich, zumindest was die Frisur anging… Die Scherapparate hingen an langen Stromkabeln von der Decke, und die heruntergefallenen Haare wurden in ein Loch im Fussboden gekehrt, in dem sich ein Eimer befand, der regelmäßig geleert wurde. Der Friseurmeister war in den frühen 70er Jahren noch ein Friseurmeister und kein Figaro.

Die einzelne Schraube gab es für ein paar Pfennige

In den frühen 70er Jahren wurde an unserem alten Haus viel erneuert, und mein Vater war ein begeisterter Handwerker. Da der Eisenwarenladen nur ein paar hundert Meter entfernt war, hatten wir Kinder das zweifelhafte Vergnügen, mit ein paar Pfennigen ausgestattet oft mehrmals am Tag dahin marschieren zu dürfen, um einzelne Schrauben, die gerade benötigt wurden, einzukaufen. Und wieder umzutauschen, wenn es doch die falschen waren.

Die “bösen” lustigen Taschenbücher

In meinem Lieblingsladen wurden Bücher, Zeitschriften und Zigaretten verkauft. Mein Favorit waren Walt Disney’s lustige Taschenbücher. Die starteten 1967 mit der Nr 1 “Der Kolumbusfalter”, und jedes Jahr kamen 3 bis 4 neue dazu. Als ich in den frühen 70er Jahren des Lesens mächtig war, war ich dieser Literatur regelrecht verfallen. Immer wieder wurde der Laden besucht, um zu schauen, ob es nicht eine neue Ausgabe gab… Meistens kam ein neuer Band, wenn das Taschengeld gerade alle war. Dann hieß es Extraschichten machen beim Strasse kehren oder Unkraut zupfen, um die anfangs 2 Mark 50 für das lustige Taschenbuch mit ehrlicher Arbeit zu verdienen. Damals hat noch keiner gewusst, dass diese Literatur voller kultureller Aneignung war und Wokeness war auch noch kein Thema…

Der Einzelhandel in den frühen 70er Jahren

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